Karlsruhe. Das Kölner Urteil, das sieben geistig Behinderten
wegen Lärmbelästigung des Nachbarn Ruhezeiten verordnet, hat
nicht nur Empörung ausgelöst, sondern auch den Ruf nach dem Bundesverfassungsgericht.
Tatsächlich sind nur wenige Fälle so geeignet wie dieser, in
Karlsruhe überprüft zu werden. Der Sprecher des Landschaftsverbandes
Rheinland, der Träger des Behindertenheimes ist, kündigte bereits
den Gang nach Karlsruhe an.
Denn seit dem 23. Oktober 1994 steht folgender Satz im Grundgesetz:
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Zwar hatte
das Bundesverfassungsgericht erst vor kurzem Gelegenheit, erstmals zu diesem
Passus Stellung zu nehmen. Doch der Fall taugte nicht so recht dazu, das
Spannungsfeld zwischen Integration und Ausgrenzung von Behinderten verfassungsrechtlich
zu beleuchten.
In dem Ende Oktober verkündeten Beschluß war die Frage
zu entscheiden, ob behinderte Kinder einen Anspruch auf gemeinsamen Schulunterricht
mit nichtbehinderten Schülern haben. Ein solches gerichtlich durchsetzbares
Recht, das konsequenterweise einen Anspruch auf Schaffung neuer integrativer
Klassen enthielte, wollten die Karlsruher Richter nicht gewähren.
Während es damals ums Geld ging – integrativer Unterricht ist
teuer –, steht im Kölner Fall der alltägliche Umgang von Nicht-Behinderte
mit Behinderten zur Debatte. Denn das Kölner Oberlandesgericht (OLG)
stützte sein Urteil nicht etwa auf einen Lärmpegel, wie er auch
durch Kindergeschrei verursacht werden kann. Es räumte dem Nachbarn
vielmehr das Recht ein, sich gegen das – nach Auffassung des Gerichts besonders
störende – Geschrei von Behinderten zu wehren.
In der mündlichen Begründung formulierte der Vorsitzende
Richter bemerkenswerte Sätze: Maßgebend sei „nicht so sehr die
Lautstärke als vielmehr die Art der Geräusche. Diese weicht völlig
ab von dem, was im üblichen nachbarschaftlichen Nebeneinander erlebt
wird, ist insbesondere mit Kindergeschrei und anderem nicht zu vergleichen,
und wirkt deshalb außerordentlich belastend."
Das Schlüsselwort ist „üblich". Das Nebeneinander von
Behinderten und Nichtbe-hinderten wird damit logischerweise als „unüblich"
bezeichnet, gewissermaßen als Ausnahmezustand, den der „Normale"
nicht ohne weiteres hinzunehmen braucht. Damit bestärkt das Gericht
Tendenzen, Behinderte außerhalb der Sicht- und Hörweite von
Nichtbehinderten aufzubewahren – Tendenzen, die zum Beispiel beim Streit
um die Errichtung von Pflegeheimen hervortreten.
Daß juristische Schritte gegen das „Unübliche" erfolgversprechend
sind, zeigen etwa Urteile aus dem Reiserecht. Das Amtsgericht Flensburg
hatte 1992 einer Familie die Minderung ihres Reisepreises um 350 Mark zugesprochen,
weil sie sich im Speisesaal durch den Anblick von zehn schwerbehinderten
Rollstuhlfahrern gestört gefühlt hatte. Ähnlich das Landgericht
Frankfurt, das im Jahr 1980 befunden hatte: „Es ist nicht zu verkennen,
daß eine Gruppe von Schwerstbehinderten eine Beeinträchtigung
des Urlaubsgenusses darstellen kann." Falls das Kölner Urteil in Karlsruhe
überprüft wird, bekommt das Gericht Gelegenheit zur Klarstellung,
was es mit dem neu eingeführten Behindertenschutz auf sich hat. Würde
er ernstgenommen als ein Auftrag des Grundgesetzes, auch juristisch die
Integration von Behinderten voranzubringen, dann wären Urteile wie
das des Kölner OLG nur noch schwer zu begründen. Heftig waren
die Reaktionen auf das Urteil.